Mittwoch, 6. November 2013

Viennale Tagebuch: Dumont, the End of Festival



Zum Abschluss der Viennale eroberten nochmal drei große Regisseure die Leinwand, füllten sie mit Bildern, die anderen verborgen blieben. Zunächst war da Alain Guiraudie, der mit seinem „L’Inconnu du lac“, der von vielen als bester Film des Jahres bezeichnet wird, die Architektur eines Raumes in einer Klarheit entwirft, die ich so noch nie gesehen habe. Seine hitchcockartige Suspense-Geschichte an einem homosexuellen Cruisingsee hat genau 4 Schauplätze: Den See, den Strand, den Wald und den Parkplatz. Trotzdem hebt das den Film keineswegs auf eine abstrakte Ebene, es ist ein bewusstes Auslassen, durch das neue Räume entstehen. Ein flüchtender Ort wird konstruiert, der seinen ganz eigenen Gesetzen gehorcht. Außerdem gewinnt der Film natürlich eine gewisse Aufmerksamkeit mit dem extrem offenen Umgang mit männlicher Sexualität. Guiraudie entwirft ein Bild der Schönheit, der Gefahr, des Begehrens. Sein eigener Blick verschmilzt mit dem seines Protagonisten und eines der bessern Stücke Kino des Jahres entsteht. Für einen Film des Jahres (welch eine bescheuerte Kategorie) fehlt mir allerdings das Blut des Regisseurs, das durch den Projektor auf die Leinwand gespritzt wird, wie das Kunstblut im Film. Guiraudie hat den Film eben doch sehr mit dem Kopf gemacht und das hat er auch sehr gut gemacht, aber die persönlichen Elemente, die man hinter den Figuren und ihren Beziehungen vermuten kann, verlieren sich trotz der extremen Körperlichkeit in einer Art künstlichen Eloquenz, einer Kontrolle von Film und Zuschauer, die ich subjektiv als unehrlich empfunden habe. 


Das kann man nicht von einem Meister des Kinobildes sagen: Bruno Dumont. Mit seinem „Camille Claudel 1915“, der bereits auf der Berlinale zu sehen war, steigert sich der Verstörungsphilosoph in ein Gesicht, jenes von Juliette Binoche. Ähnlich wie Carl Theodor Dreyer in „La Passion de Jeanne d’Arc“ studiert er das Gesicht seiner Hauptdarstellerin. Ein Lächeln wird zu einer Sensation, jede Träne kommt aus dem Magen. Innere Landschaften entstehen durch die erdrückende Umgebung, die Camille im Irrenhaus ertragen muss. Die Zeit vergeht nicht und die Flucht in sich selbst, ist eine Flucht in den Wahnsinn. Von außen dringen die nerventötenden Schreie der Patienten; Nahaufnahme um Nahaufnahme dringt Dumont in diese Frau ein ohne sie jemals zu berühren. Immer wieder zeigt er POVs von Camille. Ein winterlicher Baum im Sonnenlicht, der Horizont. Mehr als gewöhnlich fährt seine Kamera mit der Figur und vor allem auf die Figur zu. Die verzerrten Gesichtszüge lassen die Nähe von Film und Filmemacher zu Auguste Rodin ersichtlich werden. In einem womöglich zu aufgezwungenen Kunstgriff wechselt Dumont die Erzählperspektive und lässt den Bruder von Camille seine Ansichten zur Religion reflektieren. Seine Stimme vermag mehr zu berühren, als anderswo ganze Filme, aber dennoch verliert er sich in einer Intellektualität, die bei Dumont normal hinter die Essenz rückt. Dennoch steht der Film ohne Zweifel als das nächste große Werk im Oeuvre einer der definitiven Regisseure unserer Zeit. Der Doktor selbst könnte ein Patient sein, Don Juan wird von den kranken Insassen geprobt, bei starkem Wind kämpfen sich Patienten und Schwestern auf einen steinigen Berg."Es gibt nichts schlimmeres als Kunst." Denken und fühlen wird vereint.


Ähnliches mag man auch über Lav Diaz und sein „Norte, the End of History“ sagen. Mit gut vier Stunden ist das Werk des philippinischen Independent-Regisseurs eines der kürzeren in seiner Filmografie. Er entwirft eine moralische Geschichte über Schuld, Loyalität, Gewalt und Liebe. Aber er filmt sie in einer Art, die den drohenden Kitsch ertränkt. Die Kamera beherrscht in ruhigen Bewegungen Raum und Figuren, in den satten Farben verwirklicht sich eine brutale Poesie, die jederzeit in Gewalt und Einsamkeit ausbrechen kann, in der immer nur das Angebot einer Hoffnung besteht. Epik und Alltäglichkeit machen sich auf eine Reise, die man vielleicht mit „Once Upon a Time in Anatolia“ von Nuri Bilge Ceylan oder bestimmten Strömen in der Nouvelle Vague vergleichen kann. Diaz lässt die Zeit tatsächlich verstreichen, macht sie spürbar. Drama vollzieht sich im selben Moment, in dem es sich beruhigt. In Flügen über die Landschaft, die Distanz betonen und das Land spürbar machen, setzt Diaz ähnlich einem Musiker Brücken zwischen seinen Themen. Diese sind oft philosophischer Natur und beinhalten jene existentialistische Note, der man sich im Kino, dem Ort einer kollektiven Einsamkeit so schwer entziehen kann. Tiere bevölkern die Bilder: Ein Affe, Ziegen, Hennen und streunende Hunde. Die Natur und der Mensch, der Mensch und seine Natur, die Natur für sich alleine. Bei Diaz bekommt alles einen einzigen einen Platz und nichts davon ist zu viel, keine Sekunde.


Insgesamt hat die Viennale für mich völlig gehalten, was sie versprochen hat. Das ewige Rascheln vom Öffnen der Gratis-Kekse wird mir noch Wochen in den Ohren hängenbleiben, das Ellbogen-Wettrennen ins Gartenbaukino auch. Die Ruhe und Offenheit des Festivals und die Begeisterung für ein Kino, das leider keine besondere Massenwirksamkeit jenseits des Festivals hat, sind wie jedes Jahr absolut beeindruckend. Man hat das Gefühl die ganze Stadt ist cinephil. Die Frage ist natürlich, ob es nur zum Wiener Kulturdenken gehört sich wenigstens einmal auf der Viennale sehen zu lassen oder ob bei der Mehrheit eine tatsächliche Begeisterung besteht. Die zahlreichen Gäste und die langen und geduldigen Publikumsgespräche offenbarten einen Blick auf Film als Kunst. Der Respekt, den das Festival gegenüber dem tatsächlichen Medium Film hat, spiegelte sich auch in der Auswahl der Filme wieder. Die Freundlichkeit aller Mitarbeiter ist wahrhaft beeindruckend. Als ich zu Beginn des Festivals von einem Leben im Freizeitpark geschrieben habe, wusste ich noch nicht, dass der Freizeitpark mich aus dem Leben kegeln würde. Dennoch scheint mir, dass auch meine Beziehung zur Viennale davon profitieren würde, wenn ich als Besucher in der Stadt wäre. Ich werde jedenfalls nicht vergessen, wie Albert Serra mich über das Kino belehrte, ich für mehr als zwei Stunden gegen meinen Harndrang ankämpfte in „La vie d’Adèle“, zum ersten Mal schwebende, neugierige Hunde ins Bild laufen bei Lav Diaz, ein Regisseur bei seiner Produzentin anruft, um sich krank zu melden, obwohl er es nicht ist bei Porumboiu, wie Matt Johnson das Publikum während und nach seinem Film spielerisch für sich gewann, wie Miguel Gomes eine unfassbar gute Sammlung an Found Footage Material in seinem „Redemption“ zu einem irrsinnigen Ansatz verband, wie Casanova lacht während er mit einer Frau schläft, wie Juliette Binoche lächelt während sie weint, wie die frische Herbstluft in Wien nach den Filmen durch meine Lungen strömte.

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