Freitag, 10. Januar 2014

Visconti in January: Morte a Venezia




Ich musste in Venedig bleiben, ich musste nach “Senso” in dieser Stadt bleiben und dort sterben. Zum ersten Mal breche ich bewusst mit der Chronologie meiner Visconti Besprechungen, um einen anderem Pfad in seinem Kino nachzuspüren. Dieses Mal bleibe ich in der Stadt, die auch in „Senso“ jene titelgebende Sehnsucht auslöste: Venedig, Stadt der Verfalls, Stadt des Todes, „Morte a Venezia“. Bekanntermaßen hat sich Visconti der gleichnamigen Novelle („Der Tod in Venedig“) von Thomas Mann angenommen. In einen ermüdenden Vergleich zwischen Vorlage und Adaption, die nicht zuletzt für einige Kritik an Visconti gesorgt hatte, möchte ich mich allerdings nicht verlieren. Die Besprechung soll wie bisher alle meine Visconti-Besprechungen den Film als völlig neu und eigenständig ansehen. „Morte a Venezia“ ist durchaus als freie Interpretation eines Künstlers zu verstehen, der mit filmischen Mitteln seinen persönlichen Tod am Lido inszeniert. Ein Tod, der nicht nur den Körper, sondern auch den Geist langsam dahinsiechen lässt, der Kunst und Natur erst im Sterben vereint. Der Film beginnt mit der Anreise der Künstlers Gustav von Aschenbach (er ist Musiker) in die verlorene Stadt. Ein elegisches Gefühl treibt den Zuseher über das Meer und gefährliche Omen künden vom Tod. Aschenbach, der von einem perfektioniert nuancierten Dirk Bogarde verkörpert wird, soll sich auskurieren in Venedig. Doch sein Blick (und es ist im wahrsten Sinne des Wortes sein Blick) wird gefangengenommen vom jungen Tadzio, der als Sohn einer polnischen Familie im selben Hotel wie Aschenbach haust. Ein homoerotisches Begehren entfaltet sich in den zerreißenden Blicken des körperlich angeschlagenen Mannes. Das Leben haucht sich schmerzvoll ein letztes Mal zwischen seine Lider. Um ihn herum beginnt Venedig selbst zu sterben. Eine verheimlichte Epidemie bedroht die Stadt. Irgendwann gibt es überall Flammen und Rauch und mittendrin steht Aschenbach und folgt seinem Tadzio. „Morte a Venezia“ ist ein großer Trancefilm, der in seiner Perfektion als ein Urfilm für das moderne Kunstkino von Pedro Costa bis Albert Serra angesehen werden kann, indem es (sehr stark vereinfacht) mehr um eine Stimmung geht, die einen tief im Inneren mitträgt und lange nach dem Film noch festhalten kann, als um eine möglichst geschickt erzählte Geschichte. Hier wird Film als Musik begriffen.
 

Immer wieder wirft Visconti Flashbacks in seine schwebenden Kamerabewegungen durch die üppig ausgestatteten Szenenbilder und die leere Unendlichkeit von Strand und Meer. Zunächst erscheint seine Verwendung der Rückblende unpassend und störend. Zu gefangen treibt man durch die Elegie des Leidens. Aber schließlich wird klar, dass die Vergangenheit sich hier direkt auf die Bilder der Gegenwart geschrieben hat. Das Zeit-Bild ist zum Verfalls-Bild geworden und alles ist im Inbegriff sich aufzulösen. Die Erinnerungen überblenden die Gegenwart und der Blick von Tadzio, seine unschuldige Unberührtheit überblendet das immer heftigere Bedauern der eigenen Vergangenheit. Schließlich werden die Erinnerungsbilder gar zu Fantasie- und Traumbildern. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch die Musik: Gustav Mahlers 5. Sinfonie, die in ihren Klängen schon den Konflikt zwischen Sinnlichkeit und Kunst, zwischen Perfektion und Natürlichkeit entfaltet und das Geschehen in eine außerweltliche Zeit hebt, in der Ästhetik und Atmosphäre weit über dem Leben stehen. Konsequenterweise wird die Filmmusik dann plötzlich selbst zur Musik von Aschenbach und damit Teil eines dieser subjektiven Flashbacks (so will ich sie mal benennen). Buhrufe und ein Pfeifkonzert treffen Aschenbach nach einem Konzert im Herzen. Wenn ich mich daran erinnere wie groß meine eigenen Schwierigkeiten bei der Besprechung von „Senso“ samt seiner Künstlichkeit waren, nachdem ich zuvor die neorealistische Natürlichkeit von Visconti gelobt hatte, wird klar, dass in diesem Konflikt, also Realismus gegen Künstlichkeit nicht nur das Leiden von Aschenbach oder Mann sondern auch jenes von Visconti und dem Filmschaffenden an sich liegt. Liegt das Bedauern von Aschenbach nur im Ausleben einer falschen Sexualität während seines Lebens oder sind es seine eigenen Ideale an denen er scheitert? Wahrscheinlich geht beides Hand in Hand. Die Perfektion von Aschenbach ist schon bei ihrer Geburt tot. Aber ihre Schönheit ist vollkommen. Eine klassizistische Denkweise, die hier mit filmischen Mitteln von Visconti in malerischen Aufnahmen beerdigt und wiedergeboren wird.


Interessant erscheinen auch die zahlreichen Schwenks, die sich von einem Gesicht zum nächsten hangeln. Visconti spielt mit dem Ursprung dieser Schwenks. Mal scheint es als würde sich die Kamera autonom von Aschenbach entfernen, ihn fast vergessen wollen, als würde sich sein Leben vor unseren Augen auflösen. So lässt sie ihn alleine im Strandstuhl sitzen, alleine im Restaurant und fährt in der Stadt plötzlich hinter ein Gebäude, das den Blick auf den Protagonisten versperrt. Dazu passt auch wie lange wir Aschenbach nicht im Spiegel sehen können und er sich scheinbar auch selbst nicht sehen kann und will, als er sich beim Friseur für den Tod herrichten lässt. Aber immer wieder fangen Blicke diese Schwenks auf. Es ist Tadzio. Plötzlich sind es doch POV-Schwenks, die uns da geboten werden, wir scheinen den müden Augen von Aschenbach durch den Raum zu folgen und dann wagt Visconti auch einen schwindelerregende Perspektivwechsel und plötzlich sehen wir Aschenbach durch die Augen von Tadzio, ein möglicher Verweis auf die eigenen Jugend, die eigene Vergänglichkeit. Es könnte sowieso die Jugend sein, der der Musiker so lüstern folgt, jener innere Schmerz des sterbenden Mannes. Die Distanz der Kamera wird zum Sinnbild von der mentalen und körperlichen Entfremdung des Protagonisten. Zu Beginn wirkt Venedig lebendig. Um ihn herum gibt es Geschrei und die Menschen rennen und lachen. Nach und nach wird alles tauber und leerer. Es gibt eine Fokussierung auf Tadzio und das Sterben. 


Die immer wieder auftretenden Omen und die surreale Verschwörung der Welt gegen Aschenbach mitsamt der Epidemie lassen ein Delirium ans Tageslicht, das sich ebenfalls gegen die Natur zu stellen scheint, also genau in jenes Ideal der Form, das sich in das Kino von Visconti eingeschrieben hat. Seit jeher gilt Natürlichkeit als wertendes und wertvolles Kriterium für filmisches Schaffen. Am Ende filmt Visconti inmitten Aschenbachs goldenem Sterbensrausch Tadzio im Meer und am rechten Bildrand ist eine Kamera zu sehen. Diese gehört einem Fotografen, der vorher bereits in zwei Bildern zu sehen war. Es ist wohl hinlänglich klar, dass Film keine Realität abbildet, aber Erhöhung und Künstlichkeit sind dennoch oft verpönt. Visconti stellt selbst die Frage, ob großes Kino aus einer vollkommenen Form, einer durchdachten Komposition entsteht oder ob es die „echte Welt“ in sich aufnehmen muss, auf natürliche Zufälle und Unerwartetes reagieren sollte. Diese Frage wird wohl niemals zufriedenstellend zu beantworten sein. Pauschal könnte man natürlich immer argumentieren, dass jeder Stoff seine Form braucht, aber das wäre vorschnell und falsch, denn genauso wahr ist sicherlich, dass jede Form ihren Stoff braucht. Die filmische Form ist eine Form, die mit künstlichen Mitteln ein Gefühl für das Natürliche oder für das Gefühl selbst in sich tragen kann. Man kann das eine kinematografische Realität nennen. Dies gilt wohl für alle Filme, die einen künstlerischen Wert besitzen.  Ebene jene kinematografische Realität vollzieht sich in „Morte a Venezia“ für mich deutlich kraftvoller als in „Senso“, weil letzterer sich in einer Mischung aus Genre, politischer Allegorie, Geschichtskino und malerischen Bildern nicht genug auf das Gefühl konzentriert. Dieses Gefühl ist wie in jeder Kunst, das was davon bleiben wird. Visconti trachtet in „Morte a Venezia“ mit aller Kraft und Intelligenz nach einem Gefühl von Verfall, Dekadenz, Bedauern und Sehnsucht. Dieses Gefühl löst erst seine Narration, seine Figur, seine Metadiskussion von Kunst und Sexualität aus. Die abstrakte Schönheit nach der Aschenbach sucht ist zum Film selbst geworden. Und er trifft von der ersten Sekunde mitten ins Herz.

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